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Anthropozän Blues

Die Menschheitsgeschichte als Autofiktion

Die Menschheit führt ein einsames Dasein. Egal wie gesellig wir uns untereinander geben, im Ganzen sind wir Abtrünnige der Natur. Die Menschheit bleibt mit ihren großen Werken und Schandtaten unter sich. Kein anderes Tier spendet Applaus, kein Gott zeigt sich zufrieden oder erbost. Sehnsüchtig wenden wir den Blick ins All, doch finden nur ein Vakuum, das an Gotteslästerung grenzt. Und solange bloß die Leere aus dem Universum zurückstarrt, bleiben wir schlichtweg eine einsame Spezies.

In vergangenen Zeitaltern konnte der Mythos die klaffende Lücke zwischen uns und dem ersehnten Publikum unserer menschlichen Belange füllen. Doch nach der Entgottung der Neuzeit muss die Leere neu bevölkert werden. Uns treibt ein Verlangen nach anderen Wesen, nach einem Gegenüber, das unserem Unterfangen einen Sinn gibt. Denn nur die Außenperspektive eines vernunftbegabten Nichtmenschen könnte einen Sinn stiften, der über Onanie und Autofiktion hinausgeht.

Wir selbst können diese Außenperspektive träumen und erdichten, wirklich einnehmen können wir sie nicht. Schon das Hineinversetzen in andere Menschen bereitet Probleme, die so schwerwiegend sind, dass die Philosophie im Laufe ihrer Geschichte immer wieder mit dem drohenden Solipsismus ringen musste. Und noch schwerer fällt es uns, die Perspektive anderer Tiere einzunehmen. Sofort stoßen wir an Speziesgrenzen. Viele Jahrzehnte vor Thomas Nagels berühmtem Gedankenexperiment, das die Unüberbrückbarkeit von Menschen- und Fledermauserfahrungen aufzeigt, verweist bereits Edmund Husserl auf die Unmöglichkeit, die menschliche Perspektive vollends abzulegen, wenn er danach fragt, ob Quallen eine Idee der Natur haben1 und inwiefern Menschen sich generell intersubjektiv in Tiere einfühlen können.2

Wir kommen also aus dem Menschsein nicht heraus. Doch vielleicht ist das auch gar nicht länger nötig. Vielleicht können wir unser Menschsein veräußern, es übertragen und gerade so weit verfremden, dass wir das Gefühl haben, endlich andere Augen auf uns zu spüren. Unsere jüngste Hoffnung ruht daher in den Maschinen, im anhaltenden Versuch, die Technik nach unserem Ebenbild zu schaffen. Es ist ein Transmaschinismus, der die Menschwerdung des technischen Systems anstrebt. Wir geben ihm unsere Vorurteile, verwickeln es in Gespräche, treiben es in ein vermeintliches Künstlertum und sprechen von Halluzinationen der KI, wenn das System uns belügt.3

Doch egal wie viel von uns wir in die KI legen, bislang bleibt sie blutleer und kalt. Umso verzweifelter wirkt der Versuch, die technischen Systeme in den Bereich des Organischen zu zerren. Auf metaphorischer Ebene zeigt sich dies in der Rede von inzestuösen neuronalen Netzwerken. So wird der Umstand bezeichnet, dass generative Systeme anhand von Bildern oder Texten aus dem Internet trainiert werden, die zunehmend selbst mithilfe einer KI generiert wurden. Die KI wird sich so zum eigenen Vorbild. Doch was wie eine willkommene Abnabelung scheinen mag, führt vor allem dazu, dass die Modelle zur Erzeugung von Bildern und Texten degenerieren.

Ein weniger metaphorischer Versuch, die Maschinen zu uns ins Organische zu holen, zeigt sich am Phänomen der Sexroboter. In ihnen manifestiert sich ein ultimativ christliches Zeremoniell. Denn hier wird nicht bloß ein Artefakt nach unserem Ebenbild geschaffen, wir vollziehen auch den Geschlechtsakt mit unserer eigenen Kreation. Bei allen messianischen Hoffnungen, die mit Robotik und KI einhergehen, ist das Produkt bislang jedoch lediglich eine befleckte Nichtempfängnis.

Vielleicht liegt das Grundproblem unserer Versuche, das Menschsein auf die Technik zu übertragen, in dem Umstand, dass es sich hierbei um eine unbestimmte Kategorie handelt. Uns fällt es notorisch schwer, dieses Menschsein zu definieren. Ein Phänomen, das Helmuth Plessner vom Bug zum Feature erklären konnte, indem er die Gefahr jeder abschließenden Definition des Menschen herausgestellt hat. So stellt Plessner in seinem Postulat des Homo absconditus, des verborgenen Menschen, ein Mahnmal auf, in dem der Mensch in Analogie zum verborgenen Gott der negativen Theologie ohne positive Beschreibung bleiben muss.4 Denn eine Definition des Menschen, die sich an einer klaren Grenzziehung versucht, bedeutet stets den instrumentalisierbaren Ausschluss Einzelner.

Aus diesem Grund muss auch die in Deutschland so wirkmächtige Menschenwürde, deren Unantastbarkeit im Grundgesetz auf Plessners Philosophie zurückgeht,5 ohne abgeschlossene Definition bleiben. Darum zeugt auch Nick Bostroms Frage nach der Fortdauer dieser Menschenwürde im Posthumanen von einem Unverständnis des Begriffs.6 Denn Bostroms Forderung nach einer Übertragung der Würde auf das Posthumane verkennt die Würde als Auszeichnung. Dabei ist sie kein selbstverliehener Orden, sondern eine Minimalforderung, deren Randbereiche unscharf bleiben und die eine Würde anderer Wesen keineswegs ausschließt.

Wobei die Rede von der Menschenwürde diesem Ideal sicher nicht immer gerecht wird. Selbstverständlich steckt darin auch der Größenwahn einer Spezies, die sich selbst zum ständigen Referenzpunkt macht, die ein Erdzeitalter nach sich benennt und ihre Produkte nach eigenem Vorbild gestaltet. Dabei stellt die beharrliche Anthropozentrik uns zwar in den Mittelpunkt, doch um diese Mitte herrscht eine große augenlose Leere. Wir stehen im Zentrum unserer eigenen Welt, doch uns fehlt bis auf Weiteres die fremde Resonanz.

So bleibt die Menschheitsgeschichte Autofiktion ohne Publikum, wobei der erste Teil des Wortes (Auto-) unsere Einsamkeit bezeugt, während der zweite Teil (Fiktion) immerhin Ausdruck unser gestalterischen Macht über das eigene Narrativ ist. Und solange dieses Narrativ keine Abnehmer7 findet, bleibt uns nur diese Macht der Fiktion, die es uns erlaubt, der blinden Leere einen fremden Blick anzudichten. Und so träumen wird das Andere in absentia. Ob wir damit ausreichend vorbereitet sind, falls wir ihm irgendwann begegnen, wird sich zeigen müssen.


  1. HUA XIV, S. 113 f.↩︎

  2. Ebd, S. 117.↩︎

  3. Als Halluzination bezeichnet man das Phänomen plausibel wirkender Falschinformationen, die große Sprachmodelle erzeugen, ohne dass sie ihnen in den Trainingsdaten vorgegeben wurden.↩︎

  4. Plessner, Helmuth: Homo absconditus. In: Conditio humana - Gesammelte Schriften VIII. 4. Aufl., Frankfurt (Main) 2019, S. 353 - 356.↩︎

  5. Schmölders, Claudia: Das Gesicht der Würde. Helmuth Plessners Physiognomik zweiten Grades. In: Fischer, J. & Lethen, H. (Hrsg.): Plesners Grenzen der Gemeinschaft: Eine Debatte. Frankfurt (Main) 2002, S. 195 - 212.↩︎

  6. Bostrom, Nick: In Defense of Posthuman Dignity. Bioethics 19 (3) 2005, S. 202 - 214.↩︎

  7. Da die Abnehmer hier eine abstrakte nicht-menschliche Entität meinen, erübrigt sich die Verwendung gendergerechter Sprache, deren Effekt allzu vermenschlichend wäre. Die fiktiven Abnehmer stehen schlichtweg jenseits aller Geschlechtskategorien; ihr Imaginationsraum reicht vom Außerirdischen zum Göttlichen und darüber hinaus.↩︎

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