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Post-Idyll

Das Wort Heimat hinterlässt im Deutschen zuweilen einen bitteren Geschmack im Mund. Fast möchte man mit verkniffener Miene ausspucken, nachdem man es auf der Zunge hatte. Heimat erinnert an Blut-und-Boden, an Heideggers verklärte Sehnsucht nach Bach und Mühle. Heimat suggeriert Halt und Beständigkeit. Als könne die Verwurzelung in idyllischen Idealen den rasanten Siliziumträumen des 21. Jahrhunderts etwas entgegensetzen.

Doch die harmonische Leichtigkeit, die von der Idylle ausgeht, steht in krassem Gegensatz zu dem historischen Gewicht, das ihr anhängt. Darin steckt das antike Hirtenlied, in dem ein mythisches und unerreichbares Arkadien besungen wird. Die Idylle transportiert Szenen einer überhöhten Natur im locus amoenus über das Mittelalter bis in die Neuzeit. Der Kitsch trieft noch zu Zeiten der Aufklärung aus den Werken der Natur- und Heimatdichtung. So z. B. in den Idyllen Salomon Gessners (1756):

Wohin irret mein verwundeter Fuß, durch Dornen und dicht verwebete Sträuche? Himmel, welch schauerndes Entzüken! Die röthlichten Stämme der Fichten, und die schlanken Stämme der Eichen steigen aus wildem Gebüsche hervor, und tragen ein trauriges Gewölb über mir; Welche Dunkelheit, welche Schwermuth zittert ihr von schwarzen Ästen auf mich! Hier will ich mich hinsezen, an den holen vermoderten Eichstamm, den ein Nez von Epheu umwikelt.1

Dass in solchen Verklärungen der Natur auch immer Kulturkritik steckt, verwundert nicht. So findet sich in Gessners Idyllen eine vehemente Ablehnung der Stadt, in der die Wohnhäuser den Blick verstellen und wo dem Redlichen unausweichliche Fallstrike gewebt sind, wo Sitten und Verhältnisse tausend Thorheiten adeln“2. Ähnliches gilt für die Zivilisationskritik des Regionalismus im 19. Jahrhundert, in dem die Schlichtheit des Landlebens der Industrialisierung gegenübergestellt wird. Die Idee einer Überformung des Menschen durch die Kultur schreibt sich über Rousseau und Freud in die westliche Ideengeschichte ein und bleibt uns so bis heute erhalten.

Idylle, das ist der Geist in Kampfhaltung; der Versuch, sich durch Ermahnung zur Natürlichkeit gegen technokratische Allmachtfantasien aufzulehnen. Dem ist entgegenzusetzen, dass Natürlichkeit nicht mit Eigentlichkeit verwechselt werden darf. Zumal die Idylle (trotz des darin transportierten Ideals der Ursprünglichkeit) kein Hort unberührter Natur ist. Schon die antike Hirtendichtung besingt schließlich die landwirtschaftliche Nutzbarmachung. Die Idylle äußert sich vielmehr in Paraphrasen der Natur. Sie meint die Kiefernwüsten und den süßen Fäkalgestank frisch gedüngter Felder, den sanften Blick der Milchkuh und das Ausbluten des erlegten Wilds.

Die Zivilisationskritik der Idylle ist in Anbetracht ihres landwirtschaftlichen Ursprungs also immer ein Stück weit Farce. Denn die Idylle ist niemals nur die Sehnsucht nach flüsternden Bächen und Waldesrauschen. Sie ist zugleich das melodische Summen des Elektrozauns und die Barmherzigkeit des Bolzenschussgeräts. Gerade deshalb wirkt das NIMBYtum erklärter Windkraftgegner so befremdlich. Und obwohl sich die Verfechter der Idylle stets um das Konservieren ländlicher Szenen bemühen, ist die Idylle kein bloßer Kampfbegriff eines politischen Konservatismus. Sie kann sich auch subversiv geben, und ist dabei längst Teil digitaler Ästhetik und Internetkultur. Die Idylle ist eben nicht nur der begrünte Kirchhof, sie lebt heute im Binärcode fort, in der Neo-Bukolik von Cottagecore und Landwirtschafts-Simulator.

Landwirtschafts-Simulatur 2008Landwirtschafts-Simulatur 2008

Die Idylle ist also nicht wirklich die Antithese zur Zivilisation, sondern ein Gegenentwurf zum eschatologischen Fortschrittsglauben. Eine Ideologie, der es im Gegensatz zu Orpheus und Lot erlaubt scheint, einen Blick zurück zu werfen. Und mit dem ausführlichen Schulterblick drängt sich die Frage auf, ob es damals nicht besser war. Und tatsächlich ist die nostalgische Rückschau verlockend. War es nicht einfacher, als man die Nachbarin noch kannte und am Gartenzaun mit erhobener Stimme sprechen musste, um das Glockengeläut zu übertönen? War die Welt nicht überschaubarer, die Existenz leichter, als sich schweigsame Väter noch still und heimlich in ihren Jagdhütten erhängt haben?

So verlockend die Idylle auch scheinen kann, sie verkennt zuweilen, dass Konservieren und endlose Steigerung nicht die einzigen Optionen sind, die uns in unserer Konfrontation der Welt zur Verfügung stehen. Wir müssen nicht zwischen den beruhigenden Pastelltönen der Pastorale und den dramatischen Schattenrissen allgegenwärtiger Dystopien wählen. Die Idylle lässt sich überwinden, ohne dass wir uns gleich neuen verchromten Götzen zuwenden müssten. Man muss sich nicht zwischen Konservatismus und Cyber-Utopie den Hals verrenken, sich nicht im Schwindelgefühl zwischen den Extremen verlieren. Alternativ kann man sich auch an der historischen Dialektik die Schuhe abtreten und verwegen auf das Hier-und-Jetzt besinnen.

Es geht um eine Existenz jenseits des triefenden Selbstmitleids der Provinz, jenseits der Hoffnung auf Erlösung durch stotternde Maschinen. Die Literatur der Gegenwart darf weder der Pseudo-Inspiration der Large Language Models noch den Erben Theokrits überlassen werden. Es gilt vielmehr, zwischen diesen Extremen einen zeitgemäßen Standpunkt zu finden. Denn das ewige Wippen vom einen Bein aufs andere und zurück ist ermüdend, das Vertrauen auf eine nie eintretende Synthese ist blauäugig und verwechselt Geschichte mit Religion. Hier soll also weder die Glorifizierung geträumter Sommerlandschaften noch die Angst vor algorithmischen Gespenstern propagiert werden.

Natürlich schadet es nicht, sich hin und wieder in gesponnenen Utopien zu verlieren oder sich dystopische Parabeln wie Gruselgeschichten zu erzählen. Doch ein modernes Arkadien ist heute nicht erreichbarer als sein antikes Vorbild. Und der locus terribilis düsterer Science Fiction stumpft uns allzu schnell gegen die wahren Katastrophen ab. Der geschichtliche Prozess darf nicht durch solche Einseitigkeit zum Erliegen gebracht werden. Er muss offen bleiben. Und jeder, der behauptet, einen bestimmten vorgezeichneten Weg zu sehen, sollte möglichst rasch als falscher Prophet enttarnt werden. Was bleibt, ist also der Aufruf zur Blasphemie gegen den grassierenden Fortschittsglauben; die Aufforderung zur Ketzerei gegen alle Prediger der Idylle.


  1. Gessner, Salomon: Idyllen. 3. Auflage. Zürich 1761, S. 103.↩︎

  2. ebd., S. 120.↩︎

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