Der Tod ist nicht schwarz. Er ist beige — beige wie das Hemd des Verwaltungsbeamten, beige wie die Wände des Großraumbüros, beige wie die Gesichter eifriger Bürokraten. Der Tod hockt nicht im Dunkel der Unterwelt, sondern im Kaffeedunst zwischen angestaubten Topfpflanzen. Seine Insignien sind nicht Kutte und Sense, sondern Formular und Stempel. Er ist weder brutal noch geheimnisvoll, er ist das stets wiederkehrende Schema, der wohldefinierte Ablauf, die lebensfeindliche Bürokratie.
Die Bürokratie ist deutsches Kulturgut. Und nirgends wurde sie so konsequent mit dem Tod verknüpft wie im Rahmen der deutschen Geschichte. Die Bürokratie ist das tote Gegenstück zum Spiel, das sich im gesellschaftlichen Miteinander stets vollzieht. Sie ist das Spiel ohne Freiheiten, ohne Kreativität, es bleibt nur das Regelwerk, ein algorithmischer Ablauf, der die Handlungsweisen bestimmt.
Und so war das Ideal der Bürokratie schon immer der leblose Algorithmus, d. h. die Idee, das Herrschaftssystem von allem Fleisch zu befreien und den Unsicherheitsfaktor der Subjektivität vollends auszuklammern. Ein Ideal, das sich im Siliziumzeitalter seiner Realisierbarkeit nähert. Gut vorstellbar also, dass man bald nicht mehr dem verschlafenen Beamten gegenübersitzt, in dessen Augen doch zumindest hin und wieder ein Funkeln zu sehen ist, das sich als Lebenszeichen interpretieren lässt, sondern dass wir uns bald vor Programmen wiederfinden, deren Algorithmen weder in der Lage sind, Mitleid zu realisieren noch ein Lächeln zu erwidern.
In einer solchen Algokratie1 wäre die Unpersönlichkeit — laut Max Weber ein Erkennungsmerkmal der Bürokratie2 — vollends realisiert. Doch dem Ziel eines vollkommen rational agierenden Systems, in dem objektive Entscheidungen getroffen werden, liegt ein falsches Verständnis von Gerechtigkeit zugrunde. Es ist dieses Ideal der Objektivität selbst, welches als fehlgeleitet erkannt und hinterfragt werden muss. Denn wo es um menschliche Belange geht, die stets auch das subjektive Erleben der Betroffenen einschließen, ist Objektivität niemals ausreichend. Eine Intersubjektivität, wie sie technische Systeme bislang nicht leisten können, ist hier unerlässlich.
Die Aussicht auf eine eine hochtechnisierte Bürokratie ist also auch die Aussicht darauf, die Subjektivität endlich vollends wegzurationalisieren. Verwirklicht der Algorithmus diese alte, jedoch in neuer Potenz auftretende Herrschaftspraxis, arten die gesellschaftlichen Machtstrukturen bald zu einer Herrschaft des Niemand aus, welche Hannah Arendt als die Staatsform der Bürokratie bezeichnet.3 Eine solch unpersönliche bürokratische Herrschaft hat laut Arendt zur Folge, dass anonyme Verfügungen an die Stelle öffentlich-rechtlicher Entscheidungen treten, sodass schließlich keine Person mehr für die rational begründeten Verfügungen verantwortlich gemacht werden kann.4
Wie sich in der Vergangenheit König und Gott oder Parlament und Volk zueinander verhielten, indem erste scheinbar von letzteren eingesetzt und legitimiert wurden, verhalten sich in der Herrschaft des Niemand algorithmische Bürokratie und Rationalität zueinander. Im Namen der Rationalität wird der entmenschlichte (und damit auch entmenschlichende) Prozess gerechtfertigt. Was einstmals die Fleischwerdung göttlichen Willens oder demokratischer Prozesse war, wird so zur Verherrlichung des Algorithmus. Ein blinder und gesichtsloser Herrscher tritt an die Stelle adressierbarer Machthaber.
Doch natürlich kniet der moderne, aufgeklärte Bürger vor Niemandem nieder. Niemand kann ihn dazu bewegen, den Blick auf die Schuhe und das Kinn auf die Brust zu senken. Niemand ist sein Herr und Meister. Niemand sagt ihm, was er zu denken hat. Und so scheuert der moderne Bürger sich letztendlich vor diesem Niemand die Knie wund. Vielleicht ist es also an der Zeit, den Blick zu heben, bevor da kein Augenpaar mehr ist, dessen Verachtung man auf sich ziehen und dessen Gleichgültigkeit man trotzen kann.
Lorenz, L., Meijer, A. und Schuppan, T. (2021): The algocracy as a new ideal type for government organizations: Predictive policing in Berlin as an empirical case. Information Polity 26(1), S. 71 - 86.↩︎
Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie. (J. Winckelmann, Hrsg.), 5. Aufl. Tübingen 1980, S. 129.↩︎
Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem: ein Bericht von der Banalität des Bösen, 16. Aufl., München 2020, S. 59; Arendt, H.: Vita activa oder Vom tätigen Leben. (T. Meyer, Hrsg.), München 2020, S. 62.↩︎
Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt (Main) 1955, S. 304.↩︎