Die Geschichte vollzieht sich im Zeichen der Anomalie. Es ist der Error, der uns davor bewahrt, dass der historische Prozess zum Erliegen kommt. Der Error ist eine Abweichung, er ist der herrliche Ausnahmezustand, die blanke Panik, eine Ästhetik des Fremdkörpers. Der Error meint eine Diskrepanz. Die (meist unerwartete) Verschiedenheit zweier Zeichen. Der Error ist der lose heraushängende Faden, an dem die Nahtstellen der Wirklichkeit sichtbar werden. Er ist der Bug, das Ungeziefer, das ein System zum Erliegen bringt.
Der Bug ist figurativ und deshalb nicht weniger real. So fanden die Ingenieure des frühen elektromechanischen Computers Harvard Mark II im September des Jahres 1947 nach stundenlanger Suche die Ursache des jüngsten Errors in Form eines in die Maschine geflogenen Insekts. Eine Motte hatte sich in einem Relais verfangen.1 Das Insekt wurde anschließend ins Logbuch des Computers geklebt (Abb. 1), und die Anekdote nahm mythische Qualität an.
Der Bug stört den gewohnten Ablauf. Hier geht es also nicht um Plattitüden der Fehlerkultur. Es geht um das Überraschungsmoment, das vor Gleichförmigkeit und Stillstand bewahrt. Es ist das Fortschreiten jenseits ausgetretener Wege. Im Error steckt das Umherriren (lat. errare = umherschweifen, sich verirren). Der Error ist der verhinderte Trott. Er ist ein Augenblick der Orientierungslosigkeit, der einen zum Versuch einer Lagebestimmung zwingt.
Der Error ist ein übergreifendes Phänomen. Zu finden ebenso in der Abstraktion der Statistik wie in den organischen Prozessen der Evolution, wo der Error in der Übertragung des genetischen Codes die Mutation verursacht. Ähnliches gilt für die Literatur. Der Text ist stets diskrepant, bleibt immer Surrogat der Wirklichkeit.2 Die Differenzen äußern sich in den Permutationen des Sinns, die man mit zusammengekniffenen Augen für Versatzstücke der Wahrheit halten könnte.
In der Lücke, die zwischen Signifikant und Welt zu klaffen scheint, kann die Interpretation nisten. So äußert sich der Error als Modus des Textes. Wo der klare Ausdruck versagt, hilft nur ein falsches Wort. Der unpassende Begriff schmeißt uns aus dem Lesefluss, sei es in der Form frischer Metaphern oder durch die Verwirrung des Textsinns.
Allegorisch lässt sich dies auch auf den genetischen Code und die Sprachbilder seiner Lesbarkeit übertragen.3 Denn was ist die Utopie von der Verfügbarkeit des Genoms anderes als die Sehnsucht nach einem biologischen Debugging? Und tatsächlich findet eine solche Übertragung der Begrifflichkeiten von Text und Genetik, Code und Organismus ihre etymologische Rechtfertigung im Begriff der Evolution (lat. evolutio = Lesen, Auseinanderwickeln einer Schriftrolle).
Genetik und Textexegese schreiben den Error fort. Ebenso wie die verschiedenen Formen zwischenmenschlicher Kommunikation. Auch hier ist die Diskrepanz der Zeichen gewöhnlicher Teil des Prozesses. Wittgenstein führt uns den Bug im Kommunikationssystem an seinem Käfergleichnis vor:
Angenommen, es hätte Jeder eine Schachtel, darin wäre etwas, was wir »Käfer« nennen. Niemand kann je in die Schachtel des Andern schaun; und Jeder sagt, er wisse nur vom Anblick seines Käfers, was ein Käfer ist. — Da könnte es ja sein, daß Jeder ein anderes Ding in seiner Schachtel hätte.4
Und doch ist von diesem allegorischen Käfer, der Wittgenstein als Platzhalter für Empfindungen wie Schmerz dient, in unserer Sprache die Rede. Dabei ist die Existenz oder Konstanz der Käfer (der Schmerzempfindungen) im Sprachspiel irrelevant. Im Verhältnis von Gegenstand und Bezeichnung wird der Gegenstand wegabstrahiert. Nur die Bezeichnung bleibt. So kann mit der Differenz umgegangen werden. Auf diese Weise gestaltet sich das sprachliche Debugging im Kommunikationsprozess.
Der Error verlangt von uns, dass wir mit einem gesteigerten Bewusstsein der eigenen Bewegungen einen Fuß vor den anderen Sätzen. Es ist das vorsichtige Herumtasten zwischen Glyphen und Glitches. Der gestörte Prozess mag frustrieren, er kann mühsam erscheinen. Doch die Alternative ist ein dermaßen reibungsloser Ablauf, dass jeder Widerstand daran abgleitet. Ein Behördentraum, vor dem uns der Error bewahrt, wenn er sicherstellt, dass wir nicht als Moralmaschinen halbblind durch die Welt gleiten.
Der Error ist Teil sozialer Interaktion. Er kann das beunruhigende Gefühl sein, das einen beschleicht, wenn einem gewohnte Alltagsszenen plötzlich gespielt vorkommen. Ein kaum hörbares Flüstern in der Peripherie des Bewusstseins, das einem eingibt, sich der nächsten harmlosen Situation zu entwinden. Es ist die Idee, dass man den Error selbst provozieren kann, dass es möglich ist, sich der allgemeinen Ermüdung zu entziehen und etwas absolut Unerwartetes zu wagen. Der Error ist die Gewissheit, dass man das gegebene zwischenmenschliche Gefüge bei Bedarf stören kann. Er ist das unstillbare Verlangen, dem Vorgesetzten im Meeting die Spitze des Kugelschreibers in den Handrücken zu bohren. Nur ein bisschen, um zu schauen, was passiert, ob sich die Realität von den Rändern her auflöst oder ob man schweißgebadet im eigenen Bett erwacht.
Der Error verlangt uns einiges ab. Wir müssen uns zu ihm verhalten. Im Coding gibt es verschiedene Möglichkeiten, mit einem Error umzugehen. Zu unterscheiden ist dabei, ob es sich um eine unsachgemäße Nutzung oder einen tatsächlichen Fehler im Code handelt. Im besten Fall ist es möglich, die Ausnahmesituationen zu antizipieren und aufzufangen. Theoretisch ist es auch denkbar, kleinere Ausnahmen, die den Ablauf nicht gefährden, zu ignorieren. Es empfiehlt sich jedoch, jeden Error zu protokollieren und bei Bedarf sichtbar zu machen.5 Dem physischen Logbuch des Harvard Mark II entspricht dabei heute in der Regel eine digitale Logdatei.
Kann ein Error nicht aufgefangen oder ignoriert werden, ist eine mögliche Folge ein Crash des Programms. Dabei gelten ähnliche Bedingungen für den Error im Sozialen wie für jenen im Computercode. Error handling ist Teil des menschlichen Unterfangens. Kleinere Anomalien, z. B. das unverdeckte Niesen in der U-Bahn oder versehentliche Gotteslästerung am Arbeitsplatz, können situativ aufgefangen werden. Das Reichen eines Taschentuchs und nervöses Gelächter genügen hier meist, um das Sozialgefüge in Anbetracht kleiner Anomalien vor dem Zusammenbruch zu bewahren.
Andere Ausnahmefälle des Sozialen lassen sich in ihrer Alltäglichkeit ignorieren. Hierzu gehört der Obdachlose, der am Eingang zur U-Bahn steht wie Odysseus am Tor zur Unterwelt und von niemandem beachtet wird, obwohl er bereits frühmorgens in Zungen spricht. Auch die Unmöglichkeit, unsere Schmerzempfindungen (unsere Käfer) zu vergleichen, fällt in diese Kategorie kollektiver Ignoranz.
Ob unser Abwenden des Blicks hier den bestmöglichen Umgang mit dem Error bedeutet, kann begründet hinterfragt werden. Umso wichtiger ist es, dass jemand Protokoll führt. Foucaults Histoire de la folie (1961) ist ein solches Logbuch, das den vermeintlichen Wahn und unseren Umgang mit ihm festhält. Und Wittgensteins Käfergleichnis in den Philosophischen Untersuchungen protokolliert die Unterschlagung des Gegenstands zugunsten der Bezeichnung im Kommunikationsprozess. Wo der souveräne Umgang mit dem Error im Rahmen zwischenmenschlicher Begegnungen verwehrt bleibt, muss also detailliert archiviert werden, um den Error später adressieren, ihm im besten Fall beikommen zu können. Es gilt die Devise: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schreiben.
Damit bleibt die letzte hier erwähnte Möglichkeit, auf den Error zu reagieren: der Crash. Der Crash ereignet sich im Kleinen wie im Großen. Er ist die aufgelöste Party, nachdem ein Gast das Sofa in Brand gesteckt hat. Er ist die fristlöse Kündigung, die einen ereilt, wenn man eines Tages doch der Versuchung erliegt, dem Chef die Spitze des Kugelschreibers in die Hand zu stechen. Zugleich ist der Crash der große Error im Ablauf der Geschichte, der uns vor Stagnation und dem Ausgeliefertsein an einen stramm marschierenden Weltgeist bewahrt. Der Crash ist der Zusammenbruch des Staates, die Revolution. Der Crash ist ein Akt der Befreiung oder Verdammung, der den Weltgeist ins Straucheln bringt.
Der Error ist also eine Notwendigkeit. Er schafft das Bewusstsein für das nachlässig gewirkte Gewebe der Realität. Ihm verdanken wir die Möglichkeit, den lose heraushängenden Faden der Wirklichkeit mit spitzen Fingern zu greifen und daran zu ziehen, um zu sehen, ob sich das Vertraute, das gesponnene Hier-und-Jetzt vor unseren Augen auflöst. Und falls es nicht gleich zerfällt, wird doch vielleicht ein Riss sichtbar, wie klein er auch sein mag, der uns die beruhigende Gewissheit gibt, dass wir alles andere als ohnmächtig sind.
National Geographic Society: Sep 9, 1947 CE: World’s First Computer Bug. https://education.nationalgeographic.org/resource/worlds-first-computer-bug/, abgerufen am 20.01.2024.↩︎
Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt. 5. Aufl., Frankfurt (Main) 2000, S. 38.↩︎
Ebd., S. 19.↩︎
Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. 10. Aufl., Frankfurt (Main) 2020, § 293.↩︎
Diese Sichtbarmachung kann z. B. durch Fehlermeldungen geschehen. Zu den bekanntesten unter diesen Meldungen gehören die Statuscodes des Hypertext Transfer Protocol (HTTP). So zeigen mit 4 beginnende Codes einen Fehler auf Seiten des Clients (401 - Unauthorized, 404 - Not Found). Mit 5 beginnende Codes verweisen hingegen auf einen Fehler des Servers (500 - Internal Server Error, 502 - Bad Gateway).↩︎