Die Frage lautet weder ob es einen Gott gibt noch was wir nun nach Gottes Ableben mit unserer Existenz anfangen sollen. Die Frage muss lauten, wann es einen Gott geben wird und welche Konsequenzen sein/ihr Auftreten nach sich zieht. Denn nun da es denkbar wird, dass sich sehr bald neue Demiurgen digitaler Lebenswelten hervortun, scheint eine noch junge Mythologie des 21. Jahrhunderts ihre Muster in die Diskurse zu weben.
Wir haben es mit der Postmoderne zu tun, die zu sich selbst kommt. In Zeiten, in denen wirkmächtige Large Language Models (LLMs) alternative Wirklichkeiten halluzinieren, Fakten und Querverweise träumen, scheint jedwede Form klassischer Hermeneutik ins Straucheln zu geraten. Die kulturpessimistische Angst vor der vollkommenen Relativierung aller Dinge gleicht einer selbsterfüllenden Prophezeiung, wenn alles zum Code wird, der umgeschrieben und manipuliert werden kann. Sich in dieser Welt aus bloßen Signifikanten zurechtzufinden, scheint der menschlichen Intuition zuwider zu sein.
Der Prozess der Codewerdung beginnt mit der Quantifizierung des Körpers durch allgegenwärtige Gadgets und endet mit der Schöpfung neuer Welten, in denen die perfektionierten Texturen Realität heucheln. So zumindest die geträumte Vision hinter Projekten wie dem Metaversum, wobei der von Tech-Konzernen übernommene Begriff die Kapitalismuskritik seines literarischen Ursprungs schlichtweg leugnet.
Der literarische Namenspate des Metaverse bezeichnet in Neil Stephensons Roman Snow Crash eine virtuelle Realität, in der Menschen in Form von Avataren immersiv in eine Welt eintauchen, in der virtuelle Immobilien gekauft werden und soziale Zusammenkünfte stattfinden. Auf den ersten Blick mag die literarische Vorlage also ein passender Prototyp für heutige Tech-Visionen sein — doch hier wird keine Utopie beschrieben. Vielmehr handelt es sich um eine eskapistische Miniaturwelt im Rahmen einer anarcho-kapitalistischen Gesellschaft. In einem dystopischen Nordamerika der nahen Zukunft herrschen hybride Formen aus Privatunternehmen und Regierungen in sogenannten franchulates. Eine Parodie auf das hehre Ideal vollkommen liberaler Marktorientierung, aus der sich die Menschen in das Metaversum flüchten.
Der magische Realismus des 21. Jahrhunderts scheint solche Visionen in den Bereich des Möglichen zu rücken. In den neuen digitalen Welten läge die Macht bei jenen Personen, die den Code der erträumten Realität schreiben — oder bei jenen, die ihnen ihre Direktiven geben. Wer die Kontrolle über die Master-Branch hat, verfügt damit über gottgleiche Kräfte und kann selbst noch die Gesetze der kontingenten Physik innerhalb der digitalen Welt bestimmen. Die Vision mag erschrecken. Doch wo die vermeintliche Wirklichkeit unter den Händen eifriger Hacker formbar wird, gerät immerhin die Theodizee vom Abstraktum zur adressierbaren Frage. Gleichsam wird die Erlösung zur ausführbaren Anwendung, das Paradies zur proprietären Software.
Falls sich die Virtualität tatsächlich als neuer Existenzmodus durchsetzt, sollte ein spiritueller Programmierer eine Metaphysik in den Code schreiben. Am besten in HolyC, dem Derivat der Programmiersprache C, das der Programmierer Terry A. Davis im Glauben, er handele im Auftrag Gottes, zur Entwicklung seines biblischen Betriebssystems TempleOS genutzt hat. Denn solange sich ein Coder erbarmt, den Messias zu mimen, können sich Menschen in fotorealistischen Chatrooms weiter in Seins- und Sinnfragen ergehen. Und von der Selbstlosigkeit der profanen Erlöser:innen wird schließlich abhängen, ob der Himmel hinter einer Paywall liegt.
Vielleicht wäre eine derart berauschende Religion der Postmoderne in der Lage, über die Anti-Eschatologie eines allein auf Wachstum ausgerichteten Systems, das kein echtes Ziel kennt, hinwegzutäuschen. Statt einer Erfüllung bringen die virtuellen Welten somit lediglich die absolute Macht über neue Ableger der Realität. Doch es handelt sich um eine Gestaltungsmacht der Wenigen zum Preis einer Determination der Vielen, soll heißen: der User.
Es wäre interessant zu beobachten, ob die vermeintliche Realität solcher neu geschaffenen Welten wieder zu sich selbst finden würde; ob Programmierer:innen zweiter Stufe sich dort als Sub- und Halbgötter einrichten könnten, um ihrerseits Sub- und Halbwelten zu coden. Die Folge wären rekursive Götter in verschachtelten Welten, deren metaphysische Implikationen einen schwindeln lassen.
Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis in unserem Gedankenexperiment die einzelnen Welten für Welten 2.0 von ihren Schöpfer:innen zurückgelassen würden. Die Götter würden sich neuen Projekten zuwenden. Und die Vielzahl brachliegender Welten wäre bloß eine Anhäufung von Abandonware, die immer mehr Speicherplatz kosten würde und in der irgendein Avatar1 bald den Tod Gottes proklamierte.
Damit soll hier keiner Simulations-Hypothese im Sinne Nick Bostroms das Wort geredet werden.2 Denn all ihre zugrundeliegenden Spekulationen (z. B. jene über die Programmierbarkeit von Qualia) bleiben fürs Erste Glaubensfragen. Und so verbergen sich die Mythen des 21. Jahrhunderts, die Ideen des Transhumanismus und der Simulation, unter dem Deckmantel von Rationalität und Wissenschaftlichkeit.
Anstatt sich an derartiger Cyber-Scholastik zu beteiligen, sollte es vielmehr darum gehen, den Mythos an seinen entscheidenden Punkten freizulegen. Erst dann kann entschieden werden, ob uns die Permutationen dieser postmodernen Spiritualität zusagen.
Der Begriff Avatar wurde in seiner hier gebrauchten Bedeutung einer virtuellen Repräsentanz maßgeblich durch Stephensons Roman Snow Crash geprägt.↩︎
Bostrom, Nick: Are you living in a computer simulation? In: Philosophical Quarterly 53 (211), 2003, S. 243 — 255. Zum Nachlesen zu finden unter: https://simulation-argument.com/simulation.pdf↩︎